Ursprung und Entstehung: Wer hat’s erfunden?
Das Optionszeitenmodell stammt aus der zeitpolitischen Forschung und wurde in den frühen 2000er-Jahren von der Familiensoziologin Dr. Karin Jurczyk und dem Zeitforscher Prof. Ulrich Mückenberger entwickelt. Beide engagierten sich in der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik und machten es sich zur Aufgabe, neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen für eine lebensphasenorientierte Arbeitswelt zu entwerfen.
Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass das traditionelle Modell eines durchgängig in Vollzeit arbeitenden Erwerbslebens nicht mehr zu den Realitäten moderner Biografien passt. Lebensverläufe sind heute zunehmend „atmend“, das heißt, sie verändern sich dynamisch – durch Kindererziehung, Pflegeverantwortung, Weiterbildung, Krankheiten oder schlicht den Wunsch nach Erholung und persönlicher Entwicklung. Jurczyk und Mückenberger plädierten daher für ein Modell, das Zeit als soziale Ressource begreift – die ebenso wichtig wie Geld ist.
Der Kern ihrer Idee: Arbeitnehmende sollen im Verlauf ihres Lebens flexibel entscheiden können, ob und wann sie ihre Arbeitszeit reduzieren – ohne finanzielle oder karrierebezogene Nachteile. Ermöglicht werden sollte dies durch einen solidarisch finanzierten Ausgleichsfonds, in den alle Beschäftigten eines Systems (z. B. eines Unternehmens oder einer Branche) einzahlen. Zusätzlich schlagen die Wissenschaftler:innen zur flächendeckenden Finanzierung eine Art staatliche Sozialversicherung für die Optionszeiten vor, in die alle Erwerbstätigen einzahlen. Daraus würden Gehaltseinbußen bei reduzierter Arbeitszeit temporär ausgeglichen. Eine Art „Zeitbudget“, das Erwerbsbiografien flexibler und gerechter macht.
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Die erste unternehmerische Umsetzung: Otto Group und „Option 7000“
Während viele dieser Vorschläge lange in der politischen Theorie verblieben, wurde das Konzept erstmals 2013 von der Otto Group in ein betriebliches Modell übersetzt: „Option 7000“ – benannt nach den rund 7.000 Mitarbeitenden, die zu Beginn in den Genuss des Modells kamen.
Im Kern funktioniert das Modell bei Otto wie folgt: Mitarbeitende können freiwillig ihre Arbeitszeit reduzieren – etwa von 100 % auf 80 % – erhalten aber bis zu 90 % ihres ursprünglichen Gehalts. Der Ausgleich erfolgt über einen Solidarfonds, in den alle Mitarbeitenden einzahlen – unabhängig davon, ob sie das Modell selbst nutzen oder nicht. Der Beitrag liegt bei etwa 1 % des monatlichen Bruttoeinkommens.
Zudem gibt es klare Regeln: Die Reduktion ist auf bestimmte Lebensphasen begrenzt – zum Beispiel Elternzeit, Pflege von Angehörigen, Weiterbildung oder ehrenamtliches Engagement. Nach einer festgelegten Frist (z. B. zwei oder drei Jahre) kehren die Beschäftigten wieder in ihre ursprüngliche Arbeitszeit zurück.
Die Reaktionen waren durchweg positiv: Die Otto Group berichtet von einer hohen Zufriedenheit unter Mitarbeitenden, besserer Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie einer steigenden Arbeitgeberattraktivität. Auch andere Unternehmen – etwa Bosch oder Vaude – haben ähnliche Modelle eingeführt oder prüfen sie derzeit.
Wie funktioniert das Optionszeitenmodell genau?
Das Grundprinzip lässt sich in vier Elementen zusammenfassen:
- Freiwilligkeit: Mitarbeitende entscheiden selbst, ob und wann sie das Modell nutzen.
- Zeitsouveränität: Reduktion der Arbeitszeit ist für bestimmte Zeiträume möglich (z. B. 6 Monate bis 3 Jahre), typischerweise auf 70–90 % der regulären Arbeitszeit.
- Teilweiser Lohnausgleich: Die Differenz zwischen reduziertem Gehalt und dem ursprünglichen Einkommen wird teilweise durch einen Solidarfonds kompensiert.
- Solidarische Finanzierung: Alle Beschäftigten zahlen einen kleinen Beitrag (z. B. 1 % des Gehalts) in den Topf ein, unabhängig von ihrer Nutzung.
Der Fonds funktioniert nur, wenn viele mitmachen – auch jene, die das Modell vielleicht nie nutzen. Das Prinzip ähnelt daher einer Solidarversicherung, vergleichbar mit gesetzlichen Sozialversicherungen oder der Elternzeitregelung.
Im Modell von Jurczyk und Mückenberger wird für Erwerbstätige ein verbindliches Zeitbudget von etwa neun Jahren vorgeschlagen. Dieses setzt sich zusammen aus sechs Jahren für familiäre Sorgearbeit, zwei Jahren für berufliche Weiterbildung und einem Jahr für individuelle Selbstsorge. Basis bildet eine wissenschaftliche Befragung, anhand derer die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen und gewünschten Zeitbudgets für die einzelnen Lebensbereiche ermittelt wurde.
Besonders wichtig ist den Forschenden zudem die Gerechtigkeit in der Verteilung der Optionen: Menschen mit besonderen Sorgeverpflichtungen, etwa Alleinerziehende oder pflegende Angehörige, sollen erweiterte Zeitkontingente erhalten. Zudem sehen die Vorschläge gezielte Anreize für Männer vor, sich stärker in Sorgearbeit einzubringen – etwa durch verlängerte Bezugszeiten oder finanzielle Prämien bei Inanspruchnahme von Care-Zeiten. Dies soll langfristig zu einer gerechteren Verteilung unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern beitragen.

Kann ein solches Modell überhaupt flächendeckend finanziert werden?
Wenngleich vergleichbare Modelle bereits von einzelnen Unternehmen erfolgreich erprobt wurden, sind wir noch weit davon entfernt, dass Optionszeitenmodelle in der gesellschaftlichen Breite verankert werden. Doch wie kann es gelingen, dass es nicht nur bei vereinzelten Experimenten engagierter Unternehmen bleibt?
Um das Optionszeitenmodell flächendeckend umzusetzen, schlagen die Wissenschaftler:innen ein dreigliedriges Finanzierungskonzept vor, das auf Solidarität und staatlicher Steuerung basiert.
Im Zentrum steht ein öffentlich kontrollierter Optionszeitenfonds, in den Unternehmen, Beschäftigte und der Staat gemeinsam einzahlen. Dieses Modell orientiert sich an bereits bestehenden Beispielen, wie etwa der Otto Group, die intern mit einem ähnlichen Fondsmodell experimentiert.
- Unternehmen sollen dabei einen festen Beitrag leisten, der anteilig auf die Beschäftigtenzahl oder die Lohnsumme bemessen wird.
- Beschäftigte selbst sollen ebenfalls einen kleinen Beitrag entrichten – etwa ein Prozent ihres Bruttogehalts –, um sich individuell Ansprüche auf Optionszeiten zu sichern. Diese Eigenbeteiligung wird nicht als Belastung, sondern als solidarischer Beitrag zum individuellen Recht auf Zeit interpretiert.
- Ergänzend ist eine staatliche Kofinanzierung vorgesehen, etwa in Form direkter Zuschüsse oder steuerlicher Erleichterungen für die Beteiligten. Der Staat übernimmt darüber hinaus die Rolle der regulatorischen Instanz und sorgt für rechtliche Absicherung sowie einheitliche Rahmenbedingungen.
Der geplante Fonds soll transparent verwaltet und zweckgebunden geführt werden – ähnlich einer Sozialversicherung, jedoch mit klarer Zweckbindung auf Zeitguthaben für verschiedene Lebensphasen.
Auch auf rechtlicher Ebene machen die Forschenden konkrete Vorschläge: So soll für Arbeitnehmende das Recht auf Optionszeiten gesetzlich abgesichert werden. Ergänzend sollen Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und klare arbeitsrechtliche Regelungen dafür sorgen, dass Konflikte (z. B. zwischen verschiedenen Mitarbeitenden mit ähnlichen Bedürfnissen) fair und vorausschauend geregelt werden.
Gesellschaftspolitische Relevanz und Zukunftspotenzial
Die transformative Kraft des Optionszeitenmodells in Bezug auf Vereinbarkeit und Geschlechtergerechtigkeit ist nicht zu unterschätzen. In Anbetracht gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten wie dem Gender Pay Gap (der u.a. dazu beiträgt, dass Frauen einem weitaus höheren Risiko für Altersarmut ausgesetzt sind als Männer), reicht es nicht aus, Vereinbarkeit lediglich als individuelles Problem zu adressieren. Die Erwartung, dass Mütter Familie und Beruf „irgendwie unter einen Hut bringen“ müssen, geht nicht auf. Stattdessen schlägt das Optionszeitenmodell ein strukturelles Umdenken vor, das die Sorgearbeit als gesellschaftliche Aufgabe anerkennt und dafür institutionelle Zeiträume schafft.
Besonders relevant ist hierbei die explizite Zweckbindung des Zeitbudgets: Sechs der neun vorgesehenen Jahre sind für Sorgearbeit reserviert. Diese klare Gewichtung signalisiert eine politische Priorisierung von Care – ein Bereich, der bislang systematisch unterbewertet und weiblich konnotiert ist. Indem auch Männer explizit motiviert werden, Sorgezeiten zu nutzen, etwa durch Anreize wie verlängerte Zeitkontingente oder finanzielle Boni, trägt das Modell aktiv zur Entlastung von Frauen bei und durchbricht tradierte Rollenmuster. Es entprivatisiert Sorgearbeit und verankert sie als gesellschaftlich legitimierte Tätigkeit innerhalb der Erwerbsbiografie.
Zugleich eröffnet das Modell neue Perspektiven für eine partnerschaftlichere Arbeitsteilung. Wenn beide Elternteile beispielsweise jeweils ein oder zwei Jahre Zeitguthaben nutzen, können sie sich Familienzeiten aufteilen, ohne dass einer von beiden beruflich abgehängt wird. Dies bildet einen Kontrapunkt zu rein markt- oder leistungsorientierten Arbeitszeitmodellen und stellt das menschliche Leben mit seinen vielfältigen Phasen, Brüche und Beziehungen in den Fokus.
Herausforderungen und Kritik
Trotz seines transformativen Potentials stößt das Optionszeitenmodell auch auf Herausforderungen und Kritik. Eine zentrale Schwierigkeit liegt in der Finanzierung und der gerechten Verteilung der Beiträge. Kritiker:innen warnen davor, dass insbesondere kleinere Unternehmen und Geringverdienende überproportional belastet werden könnten, wenn keine ausreichende staatliche Unterstützung gewährleistet ist. Auch die Sorge vor Missbrauch oder administrativer Komplexität wird zu Recht geäußert: Wie lässt sich sicherstellen, dass die bezogenen Zeiten tatsächlich zweckgebunden genutzt werden – und wie lassen sich die Prozesse so gestalten, dass sie für Unternehmen und Beschäftigte praktikabel bleiben?
Ein weiterer Aspekt betrifft die kulturelle Dimension. In vielen Betrieben dominiert noch immer das Ideal der „lückenlosen Erwerbsbiografie“, das mit Normen von Präsenz, Verfügbarkeit und Leistungsbereitschaft verknüpft ist. Hier kann das Recht auf Optionszeiten auf Widerstand stoßen – etwa bei Führungskräften, die kurzfristige Auszeiten als Risiko für Effizienz und Teamstruktur empfinden. Auch die Angst vor Karriereeinbußen, insbesondere bei Männern, die Sorgezeiten in Anspruch nehmen möchten, könnte der Inanspruchnahme entgegenstehen. Die Forschenden betonen deshalb, dass das Modell nicht allein durch gesetzliche Rahmenbedingungen erfolgreich sein kann, sondern einen tiefgreifenden kulturellen Wandel in Unternehmen und Gesellschaft erfordert.
Fazit: Ein Modell mit Zukunft
Das Optionszeitenmodell ist weit mehr als ein neues Arbeitszeitmodell – es ist ein politisches Konzept zur sozialen Neugestaltung des Erwerbslebens. Es erkennt an, dass Erwerbsarbeit nicht das einzige ist, was unser Leben prägt, und dass Sorge, Bildung, Erholung und Selbstsorge gleichberechtigt Raum und Zeit verdienen. In einer Gesellschaft des langen Lebens, zunehmender Vielfalt und brüchiger Erwerbsbiografien bietet das Modell eine zukunftsweisende Antwort auf die Frage, wie Arbeit und Leben im 21. Jahrhundert zusammenpassen können.
Bei aller visionären Kraft ist das Optionszeitenmodell jedoch kein Selbstläufer. Es stellt etablierte Vorstellungen von Erwerbsarbeit, betrieblicher Planung und individueller Leistung und damit auch tief verwurzelte kulturelle Strukturen infrage. Die größte Herausforderung wird sein, diese kulturellen Barrieren zu überwinden: Die Angst vor Kontrollverlust, vor bürokratischem Mehraufwand oder vor Statusverlust bei Auszeiten. Ohne breite gesellschaftliche Diskussionen, mutige politische Schritte und betriebliche Pilotprojekte wird sich das Modell schwer durchsetzen lassen.
Doch die Chancen, dass solche Modelle politisch zunehmend ernsthaft diskutiert werden, stehen nicht schlecht: Angesichts der demografischen Entwicklung, des Wunsches nach Vereinbarkeit und der Notwendigkeit von Weiterbildung in einer digitalen Arbeitswelt, ist das Optionszeitenmodell eine vielversprechende Antwort auf zentrale Herausforderungen der Zukunft.
Denn eines ist klar: Zeit ist nicht nur Geld – sondern auch Leben.
Quelle: Karin Jurczyk und Ulrich Mückenberger: „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“ (2020)